Wie Robert M. W. Kempner dabei scheiterte, die Nazis…
Wie Robert M. W. Kempner dabei scheiterte, die Nazis zu stoppen
Der folgende Artikel erschien in der „Berliner Zeitung“ online am 16.03.2024.
Geschichte von Gerd Kley
Bei meinen Recherchen zur Biografie des Gymnasialprofessors und Abgeordneten Otto Morgenstern stieß ich auf einen seiner prominentesten Schüler im Lichterfelder Schiller-Gymnasium, Robert Max Wassilii Kempner (*1899 in Freiburg, † 1993 in Königsstein/Taunus). Robert war der Sohn der Bakteriologen Walter und Lydia Kempner und Patensohn von Prof. Robert Koch. Kempner machte 1917 in Lichterfelde sein Not-Abitur, um als Soldat an die Westfront geschickt zu werden. Er war ein Bewunderer seines allseitig gebildeten Lehrers Morgenstern, erkannte aber schon bald nach der Schulzeit an Morgensterns Haltung zum Kapp-Putsch dessen ambivalente Haltung zum Rechtsstaat, der damals schon gefährdet war.
Nach dem Ersten Weltkrieg begann Kempner ein Jurastudium an der Universität Freiburg. Schon während des Studiums interessierte er sich für das Völkerrecht und internationale Verbrechen, so beobachtete er den Prozess gegen den armenischen Attentäter Soghomon Tehlirian, der den osmanischen Innenminister Talât Pascha 1921 auf der Berliner Hardenbergstraße erschossen hatte. Auch Kempner hielt Pascha für mitverantwortlich für den Völkermord an den Armeniern.
Nach dem Studium trat Kempner als Justitiar und später als leitender Staatsanwalt in den Dienst der preußischen Polizei ein. 1928 wechselte er ins preußische Innenministerium. Die politischen Auseinandersetzungen im Lande sowie deren Reflexion in seinem beruflichen Umfeld führten bei ihm zu der Erkenntnis, dass es zur Strategie der im Aufwind befindlichen NSDAP gehörte, die schwache Demokratie der Weimarer Republik mit ihren eigenen Mitteln zu vernichten. Die zunehmende Wählerschaft der rechtspopulistischen NSDAP beunruhigten ihn immer mehr, ebenso die ansteigende Anzahl NSDAP-Mitglieder in der höheren Beamtenschaft.
Als überzeugter Demokrat versuchte er, gegen diesen Trend anzukämpfen. Dabei war ihm klar, dass er sich auch gegen Haltungen vieler Berufsgenossen positionieren muss. Er kannte auch die traditionelle Rechtslastigkeit der konservativen deutschen Gerichtsbarkeit. Kempner wusste, dass er in seiner Behörde keine große Unterstützung zu erwarten hatte. So forderte er auch eine Erneuerung der deutschen Justiz und prangerte ihre Verfehlungen unter dem Pseudonym „Procurator“ in Artikeln in juristischer Fachzeitschriften an, was er später unter seinem Namen als Vorstandsmitglied des Republikanischen Richterbundes wiederholte.
Zunächst veröffentlichte Kempner ab 1930 seine Gedanken und Bedenken gegenüber der NSDAP unter dem Pseudonym „Eike von Repkow“ und fasste sie 1932 in einem 97-seitigen Buch unter dem Titel „Justiz-Dämmerung: Auftakt zum Dritten Reich“ zusammen.
Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933: Adolf Hitler wird im Mai bei einer Parade in Berlin beklatscht.© Zuma/Imago
In dieser Zeit erhielt er den Auftrag der preußischen Innenminister Albert Grzesinski und Carl Severing, Maßnahmen zur Eindämmung der NSDAP, der SA und des „Führers“ vorzuschlagen, ihnen strafbare Handlungen durch Verletzung der Strafbestimmungen gegen hochverräterische Unternehmen sowie zur Förderung und Zugehörigkeit zu staatsfeindlichen Verbindungen nachzuweisen.
In diesen Schriften konnte er den strafbaren Charakter der NSDAP sowie die Strafbarkeit ihres Führers und zahlreicher führender Mitarbeiter anhand des Parteistatuts und parteiamtlicher Erklärungen in Wort und Schrift überzeugend nachweisen. Dazu gehörten die „Boxheimer Dokumente“, die die gewaltsame Beseitigung leitender Persönlichkeiten der Weimarer Republik nach der Machtübernahme forderten. Hitler selbst wurde Meineid beim Ulmer Reichswehrprozess von 1930 nachgewiesen, was zu seiner Abschiebung als unerwünschter Ausländer ausgereicht hätte, wenn die Justiz es gewollt hätte.
Kempner und seine Mitarbeiter analysieren für ihre Denkschrift neben Hitlers „Mein Kampf“ unzählige Artikel aus dem „Völkischen Beobachter“, dem „Angriff“, der „Nationalsozialistischen Pressekorrespondenz“ und den Zeitungen nationalsozialistischer Berufsverbände, aus denen eindeutig hervorgeht, dass die Regeln und Gesetze der Republik für die NSDAP nicht gelten, wenn sie ihrem Machtanspruch zuwiderlaufen.
Bezeichnend für die Haltung der NSDAP zum Parlamentarismus ist eine Äußerung des späteren Innenministers Dr. Wilhelm Frick, die Kempner im „Nationalsozialistischen Jahrbuch“ für 1927 fand: „Unsere Beteiligung am Parlament bedeutet nicht die Stärkung, sondern die Unterhöhlung des parlamentarischen Systems, nicht Verzicht auf unsere antiparlamentarische Einstellung, sondern Bekämpfung des Gegners mit seinen eigenen Waffen und Kampf für unsere nationalsozialistischen Ziele auch von der Parlamentstribüne aus. Unser nächstes Ziel bleibt immer die Eroberung der politischen Macht im Staat, sie ist die Voraussetzung für die Verwirklichung unserer Ideale. Dazu ist aber vor allem eine intime Kenntnis des verwickelten Mechanismus des modernen Staatsapparates und seiner treibenden Kräfte notwendig, will man sie einst beherrschen. Diese Kenntnis erwirbt man am besten im Parlament“.
Die Untersuchungen gegen die NSDAP wurden wesentlich vom Berliner Polizeipräsidenten Bernhard Weiß, dem Regierungsassessor Hans Schoch und dem Kriminalkommissar Johannes Stumm (später in West-Berlin Polizeipräsident) geführt. Robert Kempner bearbeitete als Justitiar die rechtliche Seite der Berichte. Nach den Erkenntnissen der preußischen Regierung hätten Hitler und die NSDAP also bereits 1931 in einem rechtsstaatlichen Kriminalverfahren wegen hochverräterischer Unternehmen, wegen Meineides und wegen Gründung staatsfeindlicher Organisationen (NSDAP, SA und SS) verurteilt werden können; Hitler selbst hätte man als „lästigen Ausländer“ aus dem Reich ausweisen können.
Kempners Rechtsauffassung kommt auch in dem von ihm um 1930 bearbeiteten preußischen Polizeiverwaltungsgesetz zum Ausdruck, in dem jedwede polizeiliche Tätigkeit dadurch gekennzeichnet ist, dass sie der Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu dienen habe. Damit waren nach Kempners Auffassung, die er in einer Denkschrift zusammenfasste, die NSDAP und ihre Organisationen, die einen Kampf gegen Recht und Gesetz inszenierten „ein Fall für die Polizei“.
Alle Untersuchungsergebnisse wurden vom preußischen Ministerpräsidenten Otto Braun „zuständigkeitshalber“ an den damaligen Reichskanzler Heinrich Brüning übergeben, der jedoch die politische Lage vollkommen falsch einschätzte (wie er später im amerikanischen Exil Kempner gegenüber zugab). Auch der aktuelle Reichsinnenminister Joseph Wirth und der Reichswehrminister Wilhelm Groener wurden vom Inhalt der 236-seitigen Denkschrift in Kenntnis gesetzt. Alle involvierten Ministerien, auch das Post- und Justizministerium, verhielten sich gegenüber den Forderungen der Denkschrift sehr indifferent und abwartend – und das angesichts der immer zahlreicher werdenden NSDAP-Mitglieder in ihrer Beamtenschaft.
Der deutsche SPD-Politiker Otto Braun bei einer Ansprache im Lustgarten in Berlin im Jahr 1932.© brandstaetter images/
Schließlich wurde die Denkschrift am 28. August 1930 durch Kempner dem Oberreichsanwalt Karl August Werner (1876–1936) übergeben – mit der Aufforderung, Hitler und die führenden NSDAP-Funktionäre anzuklagen. Die Reichsregierung hielt sich nun mit einer Stellungnahme zurück, weil ja der Oberreichsanwalt mit diesem „schwebenden Verfahren“ befasst war, in das man nicht eingreifen könne. Die Reichsregierung unter Brüning war sich unschlüssig, wie sie vorzugehen habe. Sie torpedierte mit ihrer Haltung auch die eindeutige Position der preußischen Regierung im Vorgehen gegen die NSDAP.
Brüning selbst legte in einem Aktenvermerk fest, dass man dem Ministerpräsidenten Otto Braun auf die Denkschrift und sein Begleitschreiben nicht zu antworten habe. Ein Teil des beigefügten Beweismaterials wurde sogar auf Brünings Anweisung vernichtet. Brüning und seine Regierung waren offensichtlich der Meinung, dass man Hitler und seine Partei in das demokratische System der Republik „einbinden“ und damit zivilisieren könne. Diesem Ansinnen stand eine juristische Konfrontation im Wege. Diese Haltung kam einer Selbstaufgabe der Demokratie gleich. Auch in den einzelnen Länderregierungen gab es zu einem NSDAP-Verbot beziehungsweise zur Entlassung von NSDAP-Mitgliedern aus der Beamtenschaft unterschiedliche Auffassungen.
Der Oberreichsanwalt Werner, der sich formal neutral gab, war damals jedoch schon NSDAP-Sympathisant und später sogar Mitglied der Partei. Er erklärte, dass für eine Anklage noch nicht genügend Ermittlungsergebnisse vorlägen, was bei der damaligen preußischen Regierung für Empörung sorgte. Kempner hat diese Situation, wiederum unter seinem Pseudonym „Procurator“ in der Veröffentlichung „Reichsgericht gegen rechts und links“ und „Vorhaltungen an die Oberreichsanwaltschaft zwecks Strafverfolgung und Ausweisung Adolf Hitlers“ behandelt.
In diese Zeit platzte die Meldung, dass Adolf Hitler im Februar 1932 von der damals schon faschistischen Braunschweigischen Regierung zum Regierungsrat bei der selbigen Vertretung in Berlin ernannt und damit deutscher Staatsbürger wurde, ein Schritt auf dem quasi-legalen Weg zur Kanzlerschaft. Wie die Geschichte bis zur Machtergreifung der NSDAP weiter ging, ist bekannt. Die Frage sei erlaubt, wie die Weltgeschichte verlaufen wäre, hätte man auf die Warnungen Kempners und der damaligen preußischen Regierung gehört.
Deutsche Jugendliche studieren das nationalsozialistische Leitblatt, den „Völkischen Beobachter“.© picture alliance /AP
Robert Kempner wurde nach Absetzung von Otto Braun im sogenannten „Preußenschlag“ im Juli 1932 und der Übernahme des Amtes des preußischen Ministerpräsidenten durch Hermann Göring am 11. April 1933 von diesem „höchstselbst“ aus dem Amt geworfen. Aus der nachfolgenden KZ-Haft wegen hochverräterischer Tätigkeit kam er durch internationale Proteste frei. 1935 wurde ihm vom Reichsinnenminister Wilhelm Frick die deutsche Staatsbürgerschaft wegen seiner jüdischen Herkunft aberkannt.
Kempner emigrierte 1935 nach Italien und 1939 in die USA. Dort setzte er sich zunächst für die Rechte von deutschen Emigranten ein, bevor er 1943 von der US-Regierung als Mitglied der United Nations War Crimes Commission beauftragt wurde, Verbrechen des NS-Regimes gegen das Völkerrecht zu dokumentieren. Im Herbst 1945 kehrte er nach Deutschland zurück, und zwar als Stellvertreter des amerikanischen Chef-Anklägers in den Nürnberger Prozessen, Robert H. Jackson. Hier traf er dann die „Kollegen“ seiner juristischen Zunft und ihre Mitstreiter wieder, denen er bereits Anfang der 1930er-Jahre das Handwerk legen wollte. Auch im sogenannten Wilhelmstraßen-Prozess 1947/48 gegen führende Mitglieder des Auswärtigen Amtes war er als Ankläger entscheidend beteiligt.
Seine Arbeitsgruppe fand in Aktenkisten des Auswärtigen Amtes mit „Geheimen Reichssachen“, die von der amerikanischen Armee 1945 vom thüringischen Bad Berka nach Marburg und dann in den amerikanischen Sektor von Berlin gebracht wurden, Unterlagen zur „Judenfrage“, darunter einen unscheinbaren Schnellhefter zur „Endlösung der Judenfrage“. Kempner und seine Mitarbeiter erkannten die Bedeutung dieser „Wannsee-Protokolle“, die heute wichtige Aufschlüsse über die Planung des NS-Regimes bei der Vernichtung des jüdischen Volkes geben. In der Bundesrepublik arbeitete Kempner noch viele Jahre als Jurist, bevor er 1993 verstarb. Kempner erhielt in Berlin-Lichterfelde, dem Ort seiner Kindheit und Jugend, ein Ehrengrab auf dem Parkfriedhof.
Im Begleitwort zur Neuauflage seines Buches „Der verpasste Nazi-Stopp“ schreibt Kempner 1983 an die Nachgeborenen: „In einer Demokratie ist es möglich und notwendig, dass die Medien und jeder einzelne Bürger sich um den Kampf gegen radikale staatsfeindliche Strömungen kümmern. Der Grundsatz, dass ewige Wachsamkeit der Preis für die Freiheit ist, muss stärker als bisher beachtet werden“.
Kempners Aktivitäten Anfang der 1930er-Jahre zum Verbot der NSDAP und zur Ausweisung ihres „Führers“ scheiterten einerseits an der Unentschlossenheit, unter anderem auch von demokratischen Politikern, die glaubten, eine rechtsradikale Partei in das System einbinden und damit in ihren extremen Forderungen neutralisieren zu können. Viele dieser „Demokraten“ waren andererseits auch von einzelnen Forderungen der NSDAP angetan. Ein wesentlicher Grund des Scheiterns war aber auch die Rechtslastigkeit der Gerichtsbarkeit, die schließlich Kempners Vorstoß sabotierte.
Wir sind heute stolz auf die in der Bundesrepublik gelebte Gewaltenteilung, bei der letztlich Gerichte bis hin zum Bundesverfassungsgericht das letzte Wort haben. Einem juristischen Laien stellt sich aber die Frage, wer diese Entscheidungsträger zur Verantwortung zieht, wenn sich ihr Urteil, selbst wenn es formal-juristisch korrekt sein sollte, im Nachhinein als Fehlurteil erweist und dem Lande Schaden zufügt?
Robert M. W. Kempner: Der verpasste Nazi-Stopp – Die NSDAP als staats- und republikfeindliche, hochverräterische Verbindung, Ullstein-Verlag, Hamburg 1983.
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